Beyond Eden.
“Diese vor allen Dingen als eine Kur gedachte Reise verliert allmählich ihren ursprünglichen Sinn; immer offener tritt zutage, daß sie umsonst unternommen wurde, doch besteht auch kein Grund, sie abzubrechen; das Schiff irrt, von allen Winden getrieben, von Küste zu Küste, von einem Hafen zum anderen, legt einen Monat hier an, drei Monate dort, immer hoffnungsloser wird die Suche nach dem Erdenfleck, der Bucht, dem Gesichtskreis, dem Strand, der Mole, wo das Wunder stattfinden könnte; das Seltsamste dabei aber ist: je länger die Reise dauert, desto mehr scheint jeder überzeugt, daß es einen solchen Ort gibt, daß irgendwo im Meer eine Insel liegt, ein Atoll, ein Felsen, eine Klippe, wo plötzlich alles geschehen kann, wo alles sich lösen, sich aufklären wird; sie glauben, ein etwas ungewöhnliches Morgenrot oder ein Sonnenuntergang könnten genügen oder irgendein anderes erhabenes oder lächerlich unbedeutendes Ereignis, ein Vogelschwarm, eine Walfischherde, der Regen, absolute Meeresstille, die Spannung eines brennendheißen Tages.”
Georges Perec W oder die Erinnerung an die Kindheit
Die Utopie der perfekten Gesellschaft ist vielfältig diskutiert worden, ihre Umsetzung oft gescheitert. Als am 29. Oktober 1910 der erste jüdische Kibbuz am See Genezareth in Palästina gegründet wird, soll dort in „Altneuland“ eine bessere und gerechte Gesellschaft entstehen, die auf Gleichberechtigung und harter Arbeit beruht. Von sozialistisch-zionistischen Gedanken und der „Freiland“-Bewegung inspiriert, soll die gesellschaftliche Utopie auch durch eine ideale räumliche Strukturierung umgesetzt werden. Die Kibbuzim entstanden nicht im luftleeren Raum sondern in einem Land, das bereits besiedelt ist. Ihr Aufbau und ihre architektonische Gestaltung hatten auch eine politische Implikation. Zentral für die Gründung des jüdischen Staates Israel, waren viele Kibbuzim an strategisch wichtigen Punkte errichtet worden. Nach der Staatsgründung 1948 waren sie Teil des Aufbaus eines modernen, wohlhabenden und sicheren Landes.
Inspiriert von der Utopie einer gerechten Gesellschaft und irritiert durch koloniale Siedlungsrealität machen wir uns auf die Reise nach Israel. In den Kibbuzim ein fragmentiertes Bild einer zementierten Landnahme, einer vergangenen Gegenwart, einer utopischen Vergangenheit und einer kollektiv-brüchigen Identität, in dem sich die Grenzen zwischen den Zeiten und Ideologien überlagern, aufbrechen und verschwimmen. Auf der Suche nach dem Jetzt. Was ist. Was bleibt. Sozialromantik, Utopieverfall, Zionismus.
Der Kibbuz ist ein zentraler Mythos des israelischen Staates; er beschreibt die ersten Siedlungsformen jüdischer Einwanderer aus Osteuropa auf palästinensischem Boden, lange vor der Gründung des Staates Israel. Der Jüdische Nationalfonds (KKL) , der 1901 während des Fünften Zionistenkongresses in Basel gegründet wurde, sollte es ermöglichen, Land in Palästina zu kaufen, Wüstenstriche, Felslandschaften und ausgetrockneten Boden zu erschließen und zu besiedeln. Zu den Gründungsvätern gehörte Theodor Herzl. Nach der Staatsgründung Israels 1948 war der KKL an allen wichtigen Entwicklungsprojekten beteiligt und so entstanden bereits in den ersten zehn Jahren seines Bestehens Kibbuzim, landwirtschaftliche Betriebe und Wohnsiedlungen.
Als wir in Ma’abarot aussteigen, hat es gerade aufgehört zu regnen. Ich beobachte fasziniert zwei Jungen, die große Steine aus dem Weg räumen, die eine Straße barrikadiert hatten. Jemand, der die Schranken durchbricht? Automatisch denke ich, dass sie auch von außerhalb kommen müssen. Einen der Jungen sehe ich später noch mehrmals, einmal als er die Post aus seinem Fach beim Essensraum holt. Also doch einer von hier. Er spricht am Telefon, wobei ich ihn nicht unterbrechen will. Später auf dem Parkplatz sehe ich ihn wieder und winke ihm zu. Er steigt nicht ins Auto, sondern kommt freundlich lächelnd auf mich zu und willigt ein, ein kleines Interview zu machen. Er spricht mit einem US-amerikanischen Akzent, den er wohl aus Rocktexten abgehört hat. Ich glaube ihm sofort, dass Pink Floyd sein Leben ist und bin deshalb umso verstörter, als er ebenso selbstverständlich über seine bevorstehende Armeezeit erzählt. Der Kibbuz ist alles, was er kennt und er liebt diese, seine heile Welt. Ohne Rebellionswünsche? Kaum vorstellbar. Aber vielleicht auch nur für mich. Idan scheint manchmal meine Fragen gar nicht zu verstehen, so normal ist seine Welt für ihn, so gut funktionierend, so logisch. Er stellt sich keine Fragen. Noch nicht?
„We came to this land to build and to be built“- sangen die Pioniere in den zwanziger Jahren. Ein Bau, ob gut oder schlecht, war großartig, weil er überhaupt existierte. Das Fruchtbarmachen der Wüste legitimisierte die Landnahme. Der israelische Historiker Shlomo Sand erläutert in seinem Buch Comment le peuple juif fut inventé (Sand 2008) die konstruierte Verbundenheit einer Ethnie mit einem Territorium. „Dieses umherirrende Volk brauchte ein Territorium, oder präziser, ein unbewohntes und jungfräuliches Stück Erde, das auf sein ursprüngliches Volk wartete, damit es wieder geboren werden und wieder erblühen konnte.“ Der Akt des Bauens bleibt bis heute ein Akt des Zionismus; Bauen ist in Israel eine Ideologie.
Yishai Shuster war uns von Dudu in Givat Haviva empfohlen worden, auch wenn er nicht verstand, was wir überhaupt in Yad Hannah wollten. Dieser Kibbutz, der einzig kommunistische, liegt genau auf der grünen Linie, nur einen Steinwurf von Tulkarem entfernt. Heute allerdings ist von der kommunistischen Idee nicht mehr viel übrig. Wie die meisten Kibbuzim ist Yad Hannah privatisiert. Außerdem wurden dorthin, wohl nicht ganz zufällig, Siedler aus Gaza und der Westbank geschickt. Dank großzügiger Unterstützung der Regierung konnten sie sich in Yad Hannah ansiedeln, bekamen Land, Häuser und eine finanzielle Entschädigung. Auch die Bewohner Yad Hannahs wurden entschädigt: ihr Grund und Boden verdoppelte sich. Als wir in Yad Hannah ankommen, regnet es, was die schlammigen Wege noch unwillkommener und den Ort noch verlassener erscheinen lässt. Trotzdem mir Yishai am Telefon erklärt, wo ich abbiegen muss, stehen wir bald vor einem geschlossenen Tor. Einige Israelfahnen hängen an einfachen Holzhäusern und ich frage mich, ob dort wohl die Siedler wohnen. Das Haus von Yishai und seiner Frau ist überraschend groß und modern, als hätte ich mir eher eine einfachere Behausung für echte Urkommunisten vorgestellt. Beide sind im Trainingsanzug, bieten uns Tee und Kaffee an und sind zunächst etwas reserviert. Bald sitzen wir auf den großen Ledersofas vor dem Flachbildschirmfernseher und Yishai beginnt zu erzählen. Langsam sucht er seine Worte in dieser im nicht ganz gehorchen wollenden englischen Sprache. Er vereint Widersprüchlichkeiten in sich, ist idealistisch. Unser Gespräch streift historische Ereignisse und Personen und zwischendurch kommen wir immer wieder auf die israelische Politik und das Problem der besetzten Gebiete zu sprechen. Ich bin froh, in dieses verlassene Dorf gekommen zu sein, in dem die utopischen Ideen für eine gerechte Gesellschaft in diesem weißbärtigen Mann überleben. Was bleibt, wenn er irgendwann auch nicht mehr da ist?
Metaphorische und physische Grenzen zwischen Räumen, aber auch zwischen Utopie und Realität, Geschichte und Gegenwart, Individuum und Kollektiv sind Themen, die poetisch in unseren Bildern und Texten verhandelt werden. Die ruhigen, unaufgeregten Fotografien Stephanie Kloss’ fokussieren keine singulären Ereignisse, sondern erschüttern, indem oberflächlich Unsichtbares, historisch und ideologisch aufgeladene Texturen sichtbar werden. Fotografien von Masada und Siedlungen in den Palästinensischen Gebieten eröffnen einen Assoziationsraum, der über den bekannten Rahmen dokumentarischer Architekturfotografie hinausgeht.
Penny hatte mir erst etwas Angst eingeflößt mit ihrer weißen Haut, ihrer großen Sonnenbrille, hinter denen sich eisblaue helle Augen unter exakt tätowierten Augenbrauen verbergen, ihren aufdringlich blonden wild lockigen Haaren, ihrer hageren Gestalt und ihrer langsamen, durch Antiallergika entschleunigten Sprache. Sie fährt in ihrem kleinen Golfwagen (der bei mir ein unangenehmes Gefühl hervorruft und mich irgendwie an Behinderte und automatische Rollstühle erinnert, obwohl die natürlich ganz anders aussehen) vor und wir folgen durchs ganze Kibbuz. Ihr Studio liegt auf einem der höchsten Punkte im Kibbuz und ist ein umgebauter Hühnerstall. Wenn sie die Pappen und Holzplatten von den Fenstern nimmt und Licht in die zwei weiträumigen Etagen lässt, überblickt man auf der anderen Seite der Fenster das ganze Tal und die gegenüberliegenden Berge, hinter denen die Palästinensischen Gebiete liegen. Penny entpuppt sich als beeindruckende Künstlerin. Sie inspiriert. Wenn sie von ihrer Arbeit spricht, ist es, als würden wir Zeugen auf ihrer Suche, einer Reise in die Vergangenheit, durch räumlich, plastisch und zeitlich gestaffelte Welten. Mentale Landkarten beschäftigen sie und ihre Arbeiten. Sie malt, spachtelt, klebt, zeichnet, schreibt, rührt an, verdünnt, vernetzt, erinnert. Sich? Uns? Sie? Sie scheint tief in ihrer eigenen Welt, in ihrer Arbeit, ihren Gedanken. Sie erzählt davon nicht wie von etwas, das ihr schon klar ist, sondern als würde sie gerade durch das Erzählen, das Worte Suchen und ihre Gedanken fassbar Formulieren herausfinden, worum es geht. Sie spricht bedächtig, klar. Wir werden Teil ihrer Gedankentopographie. Sie ist abwesend, permanent auf Reisen.
Die Interviews mit Kibbuzniks, KünstlerInnen, Architekten und Arbeitern jüdischer und arabischer Herkunft wurden von Antonia Blau bearbeitet und treten mit den Fotografien in einen Dialog. Die Menschen, die auf den Fotografien Stephanie Kloss’ abwesend sind, kommentieren ihre räumlichen Realitäten in ausgewählten Textausschnitten, wobei ihre persönlichen Erinnerungen, Gefühle und Projektionen in Bezug auf Architektur und Politik in den Vordergrund treten.
Das alte Ehepaar ist freundlich und zunächst etwas abwartend. Dalia hat bereits den Kaffeetisch gedeckt, als wir ankommen, wo es außer Kuchen und Obst, Kaffee und Tee auch Salziges, Mandeln und Saft gibt. Aus Höflichkeit beginnen wir zu essen, obwohl wir gerade eine große Portion Hummus gegessen haben. Zvi hatte zu Fuß kommen und uns abholen müssen, weil ich mich verfahren und an einer Schranke angekommen war. Dalia ist eine kleine dünne Frau mit kräftig nachgezogenen dunklen Augenbrauen und einem etwas müden Gesicht. Ihr deutsch singt sie jiddisch dahin. Zvi hat kluge Augen, trägt eine Brille und einen weißen Kinnbart, spricht langsam und überlegt. Sie unterbrechen sich gegenseitig und vollenden Gedanken und Sätze des Anderen, der damit meist nicht einverstanden ist. Dalia beginnt damit, Zvis Geschichte zu erzählen. Während wir Erdbeertorte in uns hineinzwingen, berichtet sie davon wie Zvis Eltern im KZ Wapniarka in Transnistrien überlebt haben. Er und seine Eltern verließen nach 45 die Tschechoslowakei, um nach Wien zu gelangen, einem jüdischen Zentrum im Nachkiegeuropa. Dort kam sein Vater 1948 tragisch bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Dalia will zwischendurch von sich erzählen, aber Zvi hält sie zunächst zurück. Sie läuft umher, wärmt Essen auf und belädt ungefragt unsere Teller.
Antonia Blau